Re: Corona Pandemie
Verfasst: 30.10.2020 21:39
Die Schweiz geht im Vergleich zu Deutschland trotz rund 5x höheren Zahlen einen anderen Weg. Ein Bericht der versucht eine Erklärung zu finden. Finde ich interessant.
Gruss TomMit dem Coronavirus leben
Die Schweiz ist das neue Schweden
Während Deutschland und Frankreich das öffentliche Leben wieder stark herunterfahren, setzt die Schweiz auf vergleichsweise milde Corona-Massnahmen. Dahinter steckt eine Strategie, die in internationalen Ärztekreisen immer grösseren Anklang findet.
Bloss kein Jo-Jo-Effekt. Marcel Tanner, Epidemiologe und Mitglied der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes, greift zu einem alltagsnahen Vergleich: Man kenne es vielleicht von der letzten Diät, auf schnelles Abnehmen folge schnelles Zunehmen. Mit dem Bild versucht er zu erklären, warum die Schweiz gerade tut, was sie tut.
Weshalb der Bundesrat weniger restriktiv agiert als die Regierungen anderer Länder Europas. Warum er die Restaurants und Bars bis 23 Uhr offen lässt, Fitnesstrainings und Museumsbesuche weiterhin erlaubt, während Deutschland und Frankreich wieder in einen (Teil-)Lockdown gehen.
Die Möglichkeit eines Circuit Breakers – eines strengen Kurz-Lockdown – wurde zwar auch in der Schweiz zwischenzeitlich diskutiert. «Wenn Sie danach aber ohne weitere Massnahmen in die alte Übertragungssituation zurückkehren, sind Sie nach drei Wochen wieder in derselben Situation», sagt Tanner. Bloss kein Jo-Jo-Effekt.
Mit dem Virus leben
Im Kampf gegen Covid-19 gab es in Europa zu Beginn zwei Glaubensschulen: Die Anhänger des schwedischen Modells setzten auf die Eigenverantwortung, während in den meisten anderen Staaten die Überzeugung vorherrschte, ohne schmerzhafte Einschnitte werde es nicht gehen.
Inzwischen kann in Schweden kaum mehr von einem Sonderweg gesprochen werden: Mit einer 50-Personen-Limite für öffentliche Veranstaltungen war das Land den Sommer über strenger als manch anderes Land. Jetzt, während der zweiten Welle, fällt die Schweiz mit ihren moderaten Regeln mindestens ebenso stark auf.
Welche Überlegungen dahinterstecken, ist einem Strategiepapier von Bund und Kantonen zu entnehmen, das diese Woche publik wurde. Darin ist wiederholt von «Mitigationsmassnahmen» die Rede. Mitigation heisst: Die Folgen der Epidemie werden gemildert, indem man etwa Risikogruppen speziell schützt. Das Gegenteil davon wäre Containment: So heisst die Strategie, deren primäres Ziel eine Eindämmung der Epidemie ist.
Man könnte auch sagen: Die Schweiz versucht, mit dem Virus zu leben. «Eine Einschränkung des öffentlichen Lebens wie im März/April 2020 soll verhindert werden», lautet ein zentraler Punkt im Strategiepapier. Die Corona-Massnahmen sollen so weit wie möglich auf die Eigenverantwortung der Schweizer Bevölkerung setzen, «mit dem nötigen Augenmass und so milde wie möglich ausgestaltet» sein. Es gelte zugleich, menschliche Opfer zu vermeiden und die wirtschaftlichen Schäden gleichzeitig tief zu halten.
«Nicht um jeden Preis»
Es ist eine Strategie, die dem Bundesrat nach seiner letzten Pressekonferenz harsche Kritik beschert hat. Gleichzeitig kommen immer mehr Mediziner, in der Schweiz und im nahen Ausland, zum Schluss: Anders geht es nicht.
So sagte der österreichische Infektiologe Franz Allerberger, Leiter der Abteilung für öffentliche Gesundheit bei der staatlichen Agentur Ages, in einem Radiointerview: «Jeder von uns wird das Virus früher oder später kriegen, ausser er stirbt vorher.»
In Deutschland veröffentlichte der Dachverband der Kassenärzte am Mittwoch ein Positionspapier mit derselben Stossrichtung: «Wir müssen uns ehrlich eingestehen: Dieses Virus wird uns die nächsten Jahre begleiten», heisst es im Dokument, das von mehr als zwei Dutzend Ärzteverbänden unterstützt wird. Auch ein Impfstoff werde nur ein Mittel unter vielen zur Bekämpfung der Pandemie sein.
Die renommierten Verfasser lehnen den neuerlichen Lockdown in Deutschland explizit ab und schreiben, der Rückgang der Fallzahlen sei politisch zwar eine dringende Aufgabe, «aber nicht um jeden Preis». Sie plädieren dafür, vulnerable Personen zu schützen, indem etwa Besucher und Personal in Altersheimen regelmässig getestet werden. Dank eines Ampelsystems soll eine drohende Überlastung des Gesundheitswesens frühzeitig erkannt werden. Vor allem aber plädieren sie für: Eigenverantwortung. «Verbote oder Bevormundung haben eine kurze Halbwertszeit und entsprechen nicht unserem Verständnis einer freiheitlich demokratischen Grundordnung.»
«Mit dem Hammer kommen Sie gegen eine Pandemie nicht an.»
Josef Widler, Präsident der Zürcher Ärztegesellschaft
Auch wenn das Dokument den Titel «Gemeinsame Position von Wissenschaft und Ärzteschaft» trägt, sind längst nicht alle Mediziner in Deutschland damit einverstanden: Viele Virologen und Epidemiologen distanzieren sich davon. Es ist ein Konflikt, wie ihn die Schweiz auch kennt. Er lässt sich, stark vereinfacht, auf die Formel herunterbrechen: die Praktiker gegen die Theoretiker.
Denn auch hierzulande halten prominente Forscherinnen wie die Virologin Isabella Eckerle einen neuerlichen Lockdown für alternativlos, während manche Hausärzte ganz andere Töne anschlagen. Josef Widler, Präsident der Zürcher Ärztegesellschaft, sagt etwa: «Mit dem Hammer kommen Sie gegen eine Pandemie nicht an.» Gefragt sei ein Rezept, das langfristig funktioniere.
Alle Hoffnungen auf eine baldige Entwicklung eines Impfstoffs zu setzen, hält er für falsch. «Wenn wir bald einen haben, ist das ein Geschenk. Wir sollten aber für die andere, wahrscheinlichere Variante planen.» Und dies bedeute, dass man Lokale nicht auf unbestimmte Zeit schliessen und nicht jede Kontaktperson amtlich befragen könne.
Er rate seinen Patienten jeweils, sich im Zweifelsfall so zu verhalten, als ob sie ansteckend wären. «Es nützt nichts, immer neue Massnahmen zu erfinden. Am wichtigsten sind und bleiben die Distanz- und Hygieneregeln – sowie in gewissen Situationen das Tragen einer Maske.» Ausser den Pflege- und Betreuungsbedürftigen habe es jeder selber in der Hand, sich nicht anzustecken, so Widler.
Eine Gruppe von über hundert kritisch eingestellten Medizinern hat dem Bundesrat bereits im Zuge der ersten Welle einen offenen Brief geschrieben und eine Lockerung der Massnahmen verlangt. Der Leiter der Gruppe, die sich «Ärzte mit Blick aufs Ganze» nennt, ist Daniel Holtz, Gefässspezialist in Rapperswil und Belegsarzt am Spital Walenstadt.
Holtz betont, er sei kein Corona-Skeptiker, gewisse Präventionsmassnahmen seien nötig. Aus seiner Sicht sei aber noch «zu viel Luft im System», die Kollateralschäden für die Wirtschaft und die Einzelnen seien weiterhin erheblich. Gleichzeitig sei er positiv überrascht, «dass der Bundesrat es sich verkneifen konnte, in einen Aktivismus zu verfallen wie Deutschland oder Frankreich».
Bevölkerung steht hinter Slowdown
Umfragen deuten darauf hin, dass die Schweizer Bevölkerung die Corona-Politik des Bundesrats grossmehrheitlich mitträgt. Laut dem am Freitag veröffentlichten «Corona-Monitor» des Forschungsinstituts Sotomo finden die sogenannten Slowdown-Massnahmen wie etwa die Sperrstunde in Gastrobetrieben oder die ausgedehnte Maskenpflicht bei den Befragten eine klare Mehrheit. Gespalten ist das Land, wenn es um die Möglichkeit des Circuit Breakers geht.
Für Marcel Tanner von der Corona-Taskforce ist es nichts als verständlich, dass Forscher und Hausärzte einen anderen Blick auf die Dinge haben: «Der eine modelliert an seinem Computer, was passieren könnte, wenn sich das Virus ungehindert ausbreitet. Und der andere sieht seinen Patienten, dem das Ausharren in der Zweizimmerwohnung psychisch stark zusetzt.»
Fakt sei, dass bei Fallzahlen in der derzeitigen Höhe eine vollständige Eindämmung der Pandemie nicht mehr möglich sei. «Es kommt, nach und nach, zu einer Durchseuchung, zunächst zumindest in gewissen sozialen Blasen.» Das Ziel müsse nun sein, die Risikopatienten vor einer Infektion zu schützen und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Dies funktioniert laut Tanner aber nur mit Massnahmen, «die die Bevölkerung versteht und so über längere Zeit durchhalten mag».
Tanner ist also ebenfalls einer, der sagt, man müsse mit dem Virus leben lernen. Und trotzdem, betont er, «dürfen wir uns jetzt nicht alle die Masken vom Gesicht reissen, weil unser Gesundheitssystem sonst zusammenbricht und dadurch unnötig hohe Opferzahlen und Kollateralschäden resultieren». Schweden stellt er, Stand heute, ein gutes Zeugnis aus: «Es ist ihnen gelungen, die Bevölkerung mitzunehmen, auch mit Massnahmen zur Reduktion der Kontakte, die strenger waren als jene der Schweiz.»
Quelle: Berner Zeitung